KURT EMSER

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Werner Brück
Schuhkartondeckel

Die See

Presse

 

  

 

   

 

recenseo - Texte zu Kunst und Philosophie

ISSN 1437-3777
www.recenseo.de
Stand 27.09.2007

Werner Brück: Kurt Emsers Bild und John Banvilles Roman "Die See". Bern, 2007.

 

Schuhkartondeckel allgemein

Marken dienen zur gesellschaftlichen Klassifizierung. Gestaltungshöhe (Design), Wertschätzung  (Image), Typografie, Stofflichkeit, Qualität – diese Dimensionen von Waren sagen etwas über die Besitzer von Markenartikeln aus. Indem der moderne Mensch diese Artikel verwendet, versetzt er sich in einen anderen Weltzusammenhang. Dieser andere Weltzusammenhang ist von potenten Demonstrationen konsumatorischer Möglichkeiten geprägt. Man mißversteht diese Zurschaustellungen eigener Konsummöglichkeiten heute gerne als "gesellschaftliche Repräsentation".

So verhält es sich auch mit Schuhkartondeckeln. Schuhe sind selbst nicht immer als Markenartikel erkennbar. Vor allem dann, wenn sie schon des öfteren getragen wurden und bestimmte Kennzeichen verloren haben. Auf dem Schuhkartondeckel aber steht die Marke. Der Schuhkartondeckel sollte zwar als Umverpackung den im Karton enthaltenen Schuh schützen. Indem Kurt Emser aber seit Jahren den eigentlichen Schuhkarton wegnimmt und nur den Deckel behält, entledigt er diesen seiner schützenden Funktion und stellt die Marke frei. Der Schuhkartondeckel wandelt sich vom käufergebundenen Index gesellschaftlicher Stellung zum alleinigen bildlichen Repräsentanten, zum Symbol.

Das erlaubt es Kurt Emser schon seit einiger Zeit zu abstrahieren. Denn das indexalische Zeichen ist von konkreten Gegenständen oder Sachverhalten abhängig, auf die es sich bezieht, und dessen Eigenschaften es ausmacht. Das Symbol hingegen ist käuferunabhängig, meist eine bloß logografische Konvention funktionaler Markenstellvertretung, wie "Benetton", "Esprit" oder der Mercedesstern. Durch den Wegfall des Käuferbezuges kann Kurt Emser generalisieren und die Marke als pars pro toto im bildkünstlerischen Gestaltungsprozess verwenden. Und damit die ästhetische und dann die lebensweltliche Erscheinungsweise des Markensymbols hinterfragen oder in andere Zusammenhänge versetzen. Dadurch wird der Schuhkartondeckel zur Ausgangsbasis verschiedener künstlerischer Expeditionen – für die man gutes Schuhwerk braucht, um im Bild zu bleiben: von der biografischen Erkundung bis zum Durchschreiten gesellschaftlicher Verhältnisse. So auch in seinem Bild "Die See". Bevor wir zu dem Bild kommen, das Kurt Emser als "Die See" bezeichnet und das am 27.02.2007 im Saarbrücker Winterbergklinikum veröffentlicht wurde, möchte ich jedoch noch etwas über John Banville und dessen Roman "The Sea" sagen, was das Verständnis des Werkes von Kurt Emser sicher noch mehr befördert.

 

John Banvilles Roman "Die See"

John Banvilles Roman "The Sea" erschien 2005. Die bekannte, auch auf Banville spezialisierte Literaturübersetzerin Christa Schuenke übersetze es. Banvilles perfektionistisch ausgeführter Konstruktionismus erfordert auch vom Leser eine bedingungslose Hingabe an den hochliterarischen Text, weil der zumeist aus verschiedenen Zeit- und Raumsituationen besteht, die sich im Fluß der Erzählung in Rückschritten und Vorausdeutungen überlagern. So baut "der Meister des abschweifenden Gebrabbels" (Ijoma Mangold) in "Die See" ein Spannungsfeld aus den Themen der Ichwerdung in Vergangenheit und Gegenwart, aus Krankheit, aus Tod und Trauer sowie aus Liebeserfahrung und Einsamkeit auf. In diesem "Bermudadreieck" teuft der autobiografische Protagonist Max Morden nach dem Tod seiner Frau am langjährigen Urlaubsort an der Irischen See die Tiefen seiner Erinnerung aus.

Das Rauschen der See dient hierbei als Kulisse für das Rauschen der Gedanken, die Rezensenten des Romans gerne als "stream of consciousness", als Bewußtseinsstrom mißverstehen, weil sie die konstruktive Hinwendung zu Krisen und Erfahrungshöhepunkten nicht erkennen.

Solche Erfahrungshöhepunkte stellen z.B. die Initiation in die dämonische Götterwelt des Eros und des Thanatos dar. Gemeint sind hier nicht der klare, vernunftbegabte Apoll und die mit ihm verbundenen Idealvorstellungen von Maß und Harmonie. Gemeint sind vielmehr Venus ("venustas", "Wollust") und Pluto, den Herrscher der Unterwelt (S. 64ff, Myles als Faun, S. 71f). Die Liebe begegnet dem elfjährigen Protagonisten erst in der Erinnerung als dunkel verborgener, aber fleischiger Blick auf die Mutter einer Spielkameradin (S. 93, S. 99ff), dann als Verrat an der als Frau im biologisch-sozialen Sinn erkannten Mutter, indem er Beschützerinstinkte für die Tochter Chloe ausbildet (S. 140) und seine Liebesfähigkeit sich in Facetten der Ritterlichkeit (S. 141), aber auch der Wahrnehmung des subjektiv Fremden ausdifferenziert (S. 142). Überlegenheitsgefühle und Demütigungen authentifizieren dieses Themenfeld (S. 143) und lassen den Leser vor den eigenen Lebenserfahrungen erschrecken. - Der Tod hingegen ist zufällig, wie John Banville in einem Interview mit Tanya Lieske im Deutschlandfunk, 25.09.06, sagte: "Tod ist immer überflüssig und unmotiviert. Das ist ja die Krux, er trifft uns immer unmotiviert." Und auf die Frage, ob der Tod etwas Besonderes sei, entgegnet Max Morden, der autobiografische Protagonist: "es war nur ein Achselzucken der gleichgültigen Welt" (S. 218).

Solche Bilder verängstigen. Unsentimental wird das Leiden in singulären Erinnerungsphasen überliefert (z.B. S. 108ff, in der Schilderung der Rosacea Mordens, oder in der Schilderung fotografischer Versuche seiner kranken Frau im Krankenhaus, die in eine unschlüssige, milde Anklageschrift münden, S. 152ff). Unerbittlich und subtil agressiv äußert sich das erwachende Subjektbewußtsein. So wie jeder von uns heute weiß, was Gut und was Böse ist, so hat jeder von uns die Grenzen in der eigenen Biografie ausloten müssen und so kann sich deshalb jeder von uns von der Poesie John Banvilles in "Die See" angesprochen fühlen, was die situativen Bezüge auf den Leser authentifiziert. So, wie in philosophisch-anthropologischer Hinsicht die Summe der phylo- und ontogenetischen Erfahrungen das Subjekt als Person ausmacht, so bestehen auch bei John Banville die ersten Erinnerungen vornehmlich aus nichtwertenden, rein erzählerischen Berichterstattungen. Erst im weiteren Verlauf der Lektüre erschließen sich dem Leser Wertungen, lebenspraktische Zusammenhänge und die reflexive Vielschichtigkeit der Protagonistenfigur. Das hängt damit zusammen, daß die Zahl und die Intensität explizit-figuraler Figurencharakterisierungen zur zweiten Hälfte des Romans zunehmen, nachdem anfänglich in stimmungsevokativen und momenthaften Erzählbildern implizitere Schilderungen überwogen (so z.B. werden Chloes grüne Zähne anfangs als erzählter Kommentar einer anderen Person über die Jugendliebe Chloe gegeben, S. 116, dann aber als Teil einer Reflexion über Beschützerinstinkte, S. 141). Der autobiografische Fixpunkt dieser Entwicklung liegt in der Bewußtwerdung des Sterbens seiner Frau: "in Augenblicken unerklärlicher Erschütterung ... hatte ich gespürt, wie ich die Membran des bloßen Bewusstseins durchstieß und eintrat in einen anderen Zustand, einen Zustand, der keinen Namen hat, in dem keine normalen Gesetze gelten, wo die Zeit ganz anders geht, wo ich weder am Leben, noch das andere bin und doch lebhafter gegenwärtig, als ich es jemals hätte sein können in der, wie wir es, weil wir müssen, nennen, in der wirklichen Welt." (S. 83)

Und das ist die Summe. Die See als strukturelle Metapher für die Vergangenheit besitzt eine gegenwärtige Oberfläche, in der alles Momentane der Gegenwart augenblicklich versinkt und abtaucht und nur unter Aufwand, in klaustrophisch-erstickenden Situationen zu heben ist. Der Nachen des orphischen Protagonisten bewegt sich dabei wie das Boot des Charon über den Todesfluß (S. 83), ins Reich der Toten, an den Strand der Lebenden, zu den Elysischen Gefilden des lichten Strandlebens (S. 27ff).

Das Aufsuchen dieser Orte, das Heben der Erinnerungen, die Navigation auf Unwägbarkeiten - in der Zusammenschau ergibt sich der individuelle Sinn des Romans für die Person des Protagonisten. Aber auch für den authentisch angesprochenen Leser, der begreift, daß der Wechsel und die Vielzahl der Erinnerungen und der gegenwärtigen Problemstellungen nicht so ohne weiteres zu ordnen ist. Und so

kommt das Buch auf seinen Anfang zurück, in wörtlicher Hinsicht, indem sich der Erzählschluss auf den Eingangssatz zurückwendet. Aber auch im übertragenen Sinn, indem klar wird, daß das literarische Schaffen komplexe Zeitstrukturen zu gewärtigen hat, weil das Thema der Mensch ist und weil dieser nicht aus der Gegenwart, sondern aus der simultanen Einheit aller Erfahrungen besteht – was m.E. eine göttliche Sichtweise darstellt (vgl. Boethius "Consolatio Philosophiae." Edited, with a Commentary, by James J. O'Donnell, University of Pennsylvania. Buch 5 Prosa 6, dort im Blick auf das Zukünftige) und was den Charakter des Buches als Kunstwerk ausmacht. 2006 las Kurt Emser dieses Buch und ließ sich davon bildkünstlerisch beeinflussen.

 

Kurt Emsers Bild "Die See"

Die Beeinflussung lag darin, daß er ein vormals vollständiges Bild in den Ausmaßen von 180 x 130 cm einer Revision unterzog und schuhkartondeckelgemäß in 29 Fragmente teilte. Das Bild zeigte ein Gespräch zweier Menschen, das der stille Beobachter mit dem Skizzenblock festhielt und dessen existentielle Eindringlichkeit ihn vor dem Hintergrund menschlicher Leiderfahrung bewegte. Eine Skizze sucht die Vereinfachung. Sie stellt eine bildnerische Kurzform dar. In schnellem Strich wird versucht, die charakteristische Formung der relevanten Umwelt zu wiederholen, was wegen der oft kurzen zur Verfügung stehenden Zeit kursorisch, aber doch präzis erfolgen muß. Das erfordert

Abstraktion und Auswahl. So eignet sich das Medium der schnellen Skizze sehr gut zur Bezugnahme auf allgemeinere, der Opazität und Komplexität des Alltagsgeschehens entledigte, freigestellte Sachverhalte – so z.B. zur Darstellung des nämlichen Gespräches zweier Menschen, die sich unter Nichtachtung der Umgebung auf sich selbst beziehen.

Ähnlich verhält es sich in der Lyrik. Man konzentriert sich hier auf Einzelfiguren und verbleibt im einmal gewählten Anschauungsbereich gewählter metaphorischer Strukturen, thematisiert das eigene Medium, in diesem Fall die poetische Sprache, kostet Synästhesien, Rhythmen, alle Möglichkeiten der Sprache aus, die sich auf Momenthaftes bezieht und aus diesem die Summe zu ziehen sucht, indem sie die raumzeitliche Verklammerung genereller als das Drama oder die Epik behandelt – wobei die lyrische Form meist, selbst in der Ballade oder im Lehrgedicht, eine literarische Kurzform darstellt, die hinsichtlich der Rezeptionszeit rascher wirkt. Ein ganzes Forschungsthema: strukturelle

Gemeinsamkeiten zwischen Lyrik und Grafik.

Im ursprünglich unfragmentierten Bild konnte man jene beiden Menschen an einem Tisch sitzend erkennen. Durch die Fragmentierung und das darauffolgende Vermischen und Drehen der Fragmente wurde diese, in der Skizze übersichtliche raumzeitliche Situation verunklärt. Es entstand ein "Puzzle", das der Betrachter zusammensetzen muß, um beide Existenzen, die auf drei Fragmenten explizit – Gesicht – und auf weiteren Bruchstücken implizit erkennbar sind – Arm, Tisch, Glas – im sitzenden Nebeneinander zu sehen. Die Frage ist, ob beide überhaupt miteinander reden, oder ob sie einfach nur nebeneinander sitzen und vor stumm sich hin starren, was die Eindringlichkeit der Szene im Sinne

einer erzählten Introversion der beiden nur verstärkt.

Die individuelle Introversion erfolgte im ursprünglichen Bild gleichzeitig. Diese Simultaneität wurde durch die Fragmentierung jedoch aufgehoben. Gefordert ist vom Betrachter der Fragmente, diese wieder in einen logischen Zusammenhang zu bringen, eine logische Form der einzelnen bildlichen Aussagen zu erreichen. Denn der Mensch nähert sich dem Unverstandenen – wozu auch die eigene Biografie im Falle des Romans von John Banville zählen kann – durch logische Schlußfolgerung. Er versucht, das große Puzzle der eigenen Erfahrungen zusammenzusetzen. Und jeder, der schon einmal ein Puzzle gelöst hat, weiß, daß gegen Ende, wenn schon große Flächen fertiggestellt wurden, die Arbeit immer schneller vonstatten geht, die bildliche Einordnung in das große Ganze nicht mehr so mühevoll ist. Aber eine endgültige Ordnung ist nicht möglich. Der Zustand des Ausgangsbildes ist nicht mehr zu erreichen, und dafür gibt es vielerlei Gründe. Der erste liegt darin, daß die Zusammensetzung zuerst Prozess ist, und nur in zweiter Linie ein Produkt. Und diese Prozesse fallen immer unterschiedlich aus, genauso wie jeder Rezipient das Buch John Banvilles in unterschiedlichem Tempo, an unterschiedlichen Stellen, in unterschiedlichen zeiträumlichen und soziobiografischen Kontexten liest. Der zweite Grund für die Unerreichbarkeit des Ausgangsbildes liegt darin, daß es beim Zuschneiden der Einzelstücke natürlich auch Reste gab, die in einer Zusammensetzung fehlen würden. Der ditte Grund läge wohl darin, daß ein zusammengesetztes Bild hinsichtlich seines Produktcharakters etwas anderes wäre als ein ganzes Bild, das nie zerlegt worden wäre. Der vierte Grund für die Inkommensurabilität des Ausgangsbildes mit dem zusammengesetzten Bild schließlich liegt in der Verwendung von Schuhkartondeckeln als Träger der einzelnen Fragmente. Diese irritiert und bringt konsumatorische Oberflächlichkeit in das schwere Werk. Die zweidimensionale Skizze und die flächenmäßige Zerteilung wird auf objekthafte, dreidimensionale, handelbare Marken bezogen. Weiter will ich auf diesen Umstand gar nicht eingehen, weil hier die individuelle Erkenntnisleistung des Subjektes verlangt wird. Nur dieses möchte ich zu bedenken geben: Was, wenn sich das menschliche Dasein – im Bewußtsein seiner selbst fragmentiert, vielleicht sogar vernichtet – auf Marken beruhen muß, um Fragmenten von sich Substanz geben zu können?

Kurt Emser zerschnitt das ursprüngliche Bild, das noch nicht "Die See" hieß, nachdem er 2006 den Roman von John Banville gelesen hatte. Er war und ist der Auffassung, der Roman "Die See" treffe seine künstlerischen Intentionen hinsichtlich dieses Bildes und seines existentiellen Anspruches. Von der Sprache und der Erzählstruktur des Romans beeinflußt, wurde ihm klar, daß das ganze, große Bild – ähnlich wie die episodisch aus dem modrigen Weiher des Vergessens gehobenen Erinnerungen Max Mordens – fragmentarisch aufzufassen sei. Und er besaß des Mut, diesen Schritt zu gehen, wodurch er dem Betrachter ein Universum an Zusammensetzungs- und damit an Deutungs- und individuellen Relevanzmöglichkeiten erarbeitete. Und weil Kurt Emser Kurt Emser ist und weil er schon lange die individuelle Relevanz vor den Hintergrund gesellschaftlicher Repräsentation stellt, bezieht er sich in der Verortung der Bildfragmente auf die propagandistischen Möglichkeiten seiner Zeit, auf Marken.

 

 

Stand: 27.07.11                                                                                                                                                                                                                                                                 Home | Texte -Die See | Presse